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Ein Blick in die Ausbildungsrealität Deutschlands
Bettelbrief von der Berufsschule

Von Michael Wehran

Mehr als 97 Prozent aller Lehrstellenbewerber haben im vergangenen Jahr einen Ausbildungsplatz erhalten. Die von SPD und Grünen geplante Azubi-Steuer dürfte diese Quote kaum verbessern. Mittelständler fordern dagegen, alle Hürden und Vorschriften zu beseitigen, die Ausbildung teuer und unattraktiv macht. Ein Blick in den Ausbildungsalltag von vier
BDS-Mitgliedsfirmen.

Zwei Lehrlinge, zwei feste Mitarbeiter – das ergibt eine Ausbildungsquote von 50 Prozent: Seit zwei Jahren bildet Lars Gärtner, Berliner Großhändler für Wein und Pharmaerzeugnisse, junge Menschen zum Groß- und Außenhändler aus. „Bei uns können sich die Kunden aussuchen, in welcher Sprache sie ihr Angebot bekommen“, scherzt sein Vater, Rainer Gärtner, und ebenfalls Geschäftsführer: „Chinesisch, Japanisch, Englisch oder Französisch – Deutsch geht natürlich auch.“ Als ehemalige Führungskraft in der DDR-Pharmaindustrie hat Gärtner Kontakte in alle Welt, das Unternehmen hält Beteiligungen an Firmen in Prag und Georgien; seine Lehrlinge sind voll in die Exportgeschäfte eingebunden. Eine davon, Ariane Parkes, ist sogar Jahrgangsbeste.

Einem Berufsschullehrer vom Oberstufenzentrum Handel 1 in Berlin-Kreuzberg ging diese Fürsorge zu weit: Nur vier mögliche Betreuer für zwei Lehrlinge sah er als schlechtes Verhältnis an, eine fundierte Betreuung könne so nicht möglich sein – und meldete den Fall an die Berliner
IHK.

Doch die Standesvertretung beschwerte sich wiederum über die Klage bei der Schule: „Das erste Mal seit Bestehen unserer Firma hat uns die Kammer geholfen – sie hat die Geschichte sofort ausgebügelt“, freut sich Gärtner.

Ein Spendenaufruf der Berufsschule dagegen konnte nicht so rasch aus der Welt geschafft werden: Da Berlin die Lernmittelfreiheit umgestellt und die Zuschüsse für die Schule von 119.000 auf 61.000 Euro gesenkt hatte, verschickte die Schule Bittbriefe an alle Ausbildungsbetriebe, um Schulbücher, Broschüren und Gesetzestexte zu finanzieren: „Wir haben uns daher in einem ersten Schritt entschlossen, von allen Schülerinnen und Schülern eine Lernmittelpauschale in Höhe von 20 Euro für das Schuljahr 2003/2004 zu erheben“, hieß es. Gärtner ärgert sich über den Bettelbrief: „Ich bilde überdurchschnittlich aus, mein Lehrling ist Jahrgangsbeste, und ich zahle pünktlich Steuern – ich sehe nicht ein, warum ich noch mehr berappen soll.“ Diese Haltung rächte sich bei der Ausgabe der Halbjahreszeugnisse: Die Schule hielt die Urkunden für jene Lehrlinge zurück, die keine 20 Euro eingezahlt hatten. Erst nachdem mehrere Unternehmen interveniert hatten, bekamen die Azubis ihre Noten ausgehändigt.

Einige Tage später kam die Berufsgenossenschaft in Gärtners Firma, um zu überprüfen, ob seine Schützlinge den gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitsplatz von mindestens 4,5 Quadratmetern erhalten. „Bei uns war alles in Ordnung, es gab keine Beanstandungen“, so Gärtner zum Ergebnis der Kontrolle. Zweifel hegt der Unternehmer allerdings daran, ob die Überprüfung ein Zufall war: „Bei uns hatte sich noch nie jemand blicken lassen – und kurz nach der Auseinandersetzung mit der Schule kommt jemand vorbei? Wegen solcher Ärgernisse und drastisch gestiegener Prüfungsgebühren der Berliner IHK auf knapp 600 Euro haben wir uns entschlossen, zunächst nicht mehr neu auszubilden.“

Anke Nolte, Mitinhaberin einer Malerfirma in Tellingstedt/ Schleswig-Holstein, hat vor allem Probleme mit unqualifizierten Bewerbern. Dabei hat der Betrieb – bis auf eine gute Note in „Sport“ – keine speziellen Ansprüche an die schulischen Leistungen der künftigen Azubis. Allein eine ordentliche Bewerbung in manierlichem Deutsch erwartet die Unternehmerin: „Von der Qualität der Bewerbung ziehen wir Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit des Anliegens – und auf das Elternhaus. Wer nicht richtig schreiben kann, könnte seinen Lehrer fragen oder zumindest seine Eltern“, meint Nolte. Die Bewerbung sei die Visitenkarte: „Wer eine liederliche Bewerbung schickt, schaut später auch nicht auf sauberes und sorgfältiges Arbeiten. “ Aktuell bietet der Malerbetrieb zwei Lehrstellen an, darauf hätten sich 20 Jugendliche beworben. Aber ein gutes Gefühl habe sie bei keinem. Um dennoch zwei jungen Leuten eine Chance zu geben, bietet sie Bewerbern einen Praktikumsplatz an, damit sie ihr „Durchhaltevermögen, Engagement und Auftreten“ zeigen können. „Man glaubt gar nicht, was man bei einer Bewerbung alles falsch machen kann“ kommentiert Nolte ungläubig die variantenreichen Fehlerquellen: „Mal wird mit unserer Adresse die Konkurrenzfirma angeschrieben, häufig fehlt die Unterschrift; eine Schülerin hat sich bei uns sogar als Fleischereifachverkäuferin beworben – alles Beispiele für Serienbriefe, die vorm Wegschicken nicht mehr durchgelesen wurden.“ Die Rechtschreibung war durchweg mangelhaft, teilweise waren sogar die eigenen Namen nicht richtig geschrieben worden“, betont die BDS-Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein. Frauen würde der Betrieb gern in den Malerberuf einführen – doch bislang ist leider keine einzige ehemalige Auszubildende im Beruf geblieben, und die vielzitierte obligatorische extra Toilette nur für Frauen lasse sich auf Baustellen nicht durchhalten und treibe die Kosten hoch.

Erst zerbrach die Ausbildung, dann die Liebe

Doch auch eine tadellose Bewerbung in einwandfreiem Deutsch garantiert keinen Ausbildungsplatz. „Neulich hat sich bei uns jemand beworben, der in einer früheren Schulungsmaßnahme 64 Stunden unentschuldigt gefehlt hatte. Mit so einem Zeugnis hat der Mann doch nirgendwo eine Chance“, so Nolte. Einen Teil der Schuld schiebt sie auf die Gesellschaft, die immer mehr toleriere: „Die jungen Menschen müssen sofort Gegenmaßnahmen spüren. Vielleicht hätte in diesem Fall eine sofortige Kürzung der Vergütung gefruchtet.“ Wenn es um die Präsenz am Arbeitsplatz geht, wird in der Firma Nolte konsequent durchgegriffen. „Manche Azubis haben wir jahrelang aus dem Bett geklingelt.“ So auch einen Malerlehrling, der sich dann im dritten Lehrjahr von einem Tag auf den anderen nach Berlin verabschiedete – frisch verliebt zur neuen Freundin. „Erst zerbrach die Ausbildung“, erzählt Nolte, „wenige Monate später wohl auch die Liebe.“ Nun beziehe er vermutlich Sozialhilfe. „Wir und seine Erzieher haben viel Energie in ihn investiert, er war ein Heimkind... Doch irgendwo hört das Engagement auf. Außerdem schadet solch ein Verhalten dem Betriebsklima. Unsere Gesellen sind darauf nicht gut zu sprechen.“ Die Ausbildungsabgabe sieht Nolte, der Betrieb hält seit 1978 durchschnittlich zwei Ausbildungsplätze vor, skeptisch. Wenn jetzt Mangels geeigneter Bewerber kein Ausbildungsvertrag geschlossen wird, wird der Betrieb jedoch nicht zahlen müssen. Denn mit 9,5 Mitarbeitern liegt die Firma unter dem geplanten Schwellenwert von 10 Beschäftigten.

Durchstehvermögen, Höflichkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit – diese Tugenden vermisst auch Siegfried Steckling, Meister einer Gas-, Wasser- und Heizungsinstallationsfirma im brandenburgischen Wildau. „Die Qualität der Bewerber hat sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Die Schule versagt fast komplett.“ Steckling bemängelt vor allem das Erscheinungsbild und Auftreten der jungen Leute: „Die kann ich zu keinem Kunden schicken.“ Seit zwei Jahren bildet Steckling, der sechs feste und vier freie Mitarbeiter beschäftigt, nicht mehr aus: „Es ist für mich auch eine Kostenfrage“, erklärt er. Ich muss ständig einen Mitarbeiter freistellen, der die Lehrlinge betreut und anleitet. Zusammen mit den anderen Kosten ist das zu teuer – hinzu kommt die schwierige wirtschaftliche Situation, die mir keine Planungssicherheit gibt. Da kann ich keinen Lehrling für drei Jahre einstellen.“ Neben der Lehrlingsvergütung von monatlich bis zu 630 Euro, müsse er jedes Halbjahr mindestens einen Speziallehrgang finanzieren, etwa fürs Schweißen. 1.200 Euro pro Jahr veranschlagt Steckling dafür pro Person. „Bedenkt man, dass die Lehrlinge die Hälfte ihrer Ausbildungszeit nicht in der Firma verbringen, kann ich mir momentan keinen leisten.“

Wer bei Jens Kahlsdorf Mediengestalter oder Werbekaufmann lernen möchte, muss zunächst ein sechsmonatiges Praktikum absolvieren. Der Inhaber der Norderstedter Werbeagentur Kahlsdorf + Partner möchte seine künftigen Lehrlinge gründlich kennenlernen; erst dann gibt es einen Vertrag. Probleme haben mit der Probezeit nur wenige: „Etwa 20 Prozent steigen innerhalb der ersten sechs Wochen aus. Da trennt sich die Spreu vom Weizen“, betont der Geschäftsführer, dessen Bewerber einen Aufnahmetest mit Rechenaufgabe ablegen müssen.

„Während des Praktikums bekommen sie eine kleine Vergütung – bei manchen Hamburger Werbeagenturen müssen sie dagegen sogar Startgeld mitbringen“, sagt Kahlsdorf, der sieben Mitarbeiter beschäftigt; allein drei davon sind Lehrlinge. Da die Werbebranche völlig überlaufen sei, hätten nur die Besten eine Chance im Berufsleben. „Trotzdem sind die Ausbildungsinhalte nicht zeitgemäß, kritisiert Kahlsdorf: „Wir sind eine kleine Business to Business–Agentur; der Lehrplan konzentriert sich aber auf Business to Consumer – was wir jedoch kaum benötigen. Auch die technische Ausbildung der Mediengestalter an Computern hinkt hinterher. Und zum Praxiseinsatz fährt die Berufsschule nach Paris – dabei ist der französische Werbemarkt innerhalb der westlichen Welt der speziellste. Mit den dort gewonnenen Erfahrungen können sie international nichts anfangen.“ Trotz 40 Prozent Präsenzzeit in der Berufsschule müsse Kahlsdorf jeden Lehrling 130 weitere Stunden pro Quartal nachschulen, damit sie die Anforderungen seiner Agentur erfüllen. Das Ziel: Seine Leute sollen Jahrgangsbeste werden. „Und häufig schaffen wir das auch“, freut sich der 44- jährige.

Wegen der Vergütung seiner Azubis hat Kahlsdorf regelmäßig Probleme mit der IHK: „In unserer Branche gibt es keinen Tarif; die Kammer vermutet daher zunächst, dass ich mit 280 bis 400 Euro zuwenig bezahle. Das Begutachten der Ausbildungsverträge dauert meist drei Monate. Zähneknirschend unterschreiben sie schließlich.“ Jährlich gehen 300 Bewerbungen bei Kahlsdorf + Partner ein, nur jeweils ein Interessent bekommt den Zuschlag. Doch auch das sechsmonatige Beschnuppern und der Eignungstest garantieren keinen Erfolg: „In den letzten zwölf Jahren habe ich zwei Leute wegen unentschuldigten Fehlens kündigen müssen – sie verschwanden auf Nimmerwiedersehen und tauchten völlig ab. Den Ausbildungsvertrag habe ich mit den Eltern aufgelöst.“

Erschienen in beim BDS/DGV Online im März 2004

http://www.bds-dgv.de/wDeutsch/themen/artikel/ds0204-03.shtml

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